Es gibt einen kleinen Nachtrag zu dem bestürzenden Brief des geklauten Opi, denn ich hatte zwei Archive um Infos gebeten. Ganz im Style Berlins, waren sie nicht nur wenig hilfreich, sondern auch noch patzig in der Antwort (Berlin ist auch irgendwie das Paris Deutschlands, was die Freundlichkeit der Ortsansässigen angeht – Migrantis ausgenommen natürlich). ABER ein zweites Archiv hat uns doch tatsächlich Infos gesendet. So spannend!
Schauen wir mal rein….
Estmal hier nochmal der Link zu dem ursprünglichem Blogbeitrag, denn solltet ihr gelesen haben, um den Nachtrag verstehen zu können:
Und jetzt kommen wir zu den neuen Infos. Das ist, was ich zugesendet bekommen habe (Vielen lieben Dank an das Stadtarchiv München für die Hilfe):
Wir haben also die alte Meldekarte zu Hans und Cilly Meyer (Signatur: DE-1992-EWK65-M377). Dort kann man vieles entnehmen, beispielsweise, wo sie genau wohnten, Kriegsverstrickungen und die Schuld-Entlastung des Mannes, die kompletten Namen der Kinder, die Adresse, wo sie im Anschluss an den Krieg, also nach München gewohnt hatten und vieles mehr. Toll!
Cilly, an die der ursprüngliche Brief ging, hatte ja bekanntermaßen einen Mann – Hans Meyer. Er wird ja erwähnt im Brief. Nun wissen wir, dass er am 02.06.1900 in Hellkofen geboren war, wir kennen die Namen seiner Eltern und was deren Beruf war. Zur Zeit des Briefes war er 43 Jahre alt. Seine Frau, an die der Brief ging, unsere Hauptprotagonistin (neben Ursel), war 41 Jahre alt (02.04.1902 in Pfaffenberg geboren).
Aber zurück zum Mann:
Er war wohl auch in der “Landwehr” von München. Auch seine Wehrpassnummer haben wir. Laut der Spruchkammer München X vom 8.10.1946 wurde er in die Gruppe IV – die der sogenannten “Mitläufer” eingeordnet. Das seht ihr ganz unten auf der Meldekarte.
Die Einstufung als “Mitläufer” in “Gruppe IV” im Rahmen der “Entnazifizierung” bezeichnet eine Person, die lediglich nominell an der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft teilgenommen oder sie unterstützt hat, ohne “Hauptschuldiger”, “Belasteter” oder “Minderbelasteter” zu sein. Solche Personen hatten oft nur unbedeutende Verantwortlichkeiten/Aufgaben im Nationalsozialismus wahrgenommen und/oder lediglich als Mitglied in NS-Organisationen gezahlt. Manchmal hatten sie auch an obligatorischen Versammlungen teilgenommen. Obligatorisch heisst, dass diese verpfichtend waren, also die Personen dort teilnehmen MUSSTEN.
Die Sühnemaßnahmen, also Dinge, die sie leisten mussten, um Verantwortung zu übernehmen, was im Krieg passiert ist, waren in der Regel milder als in den höheren Kategorien.
Hauptmerkmale von Gruppe IV („Mitläufer“)
(siehe Artikel V. Mitläufer. – Kontrollratsdirektive Nr. 38 – Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen – vom 12. Oktober 1946)
- Nominale Parteizugehörigkeit: Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen, jedoch ohne maßgeblichen Einfluss oder aktive Beteiligung.
- Unbedeutende oder laufende Obliegenheiten: Übernahme von Routineaufgaben, die allen Mitgliedern oblag.
- Bezahlung von Mitgliedsbeiträgen: Eine reine finanzielle Beteiligung ohne weitere aktive Mitarbeit.
- Teilnahme an obligatorischen Versammlungen: Anwesenheit bei vorgeschriebenen Treffen.
- Keine Hauptschuld: Die Person war nicht für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verantwortlich.
Abgrenzung zu anderen Gruppen
- Hauptschuldiger: Personen, die die Gewaltherrschaft maßgeblich mitverursacht oder vorangetrieben haben.
- Belasteter: Personen, die eine höhere Schuld trugen als „Mitläufer“.
- Minderbelasteter: Personen, die eine geringere, aber dennoch spürbare Schuld trugen.
- Entlasteter: Personen, die im Verfahren nachweislich von der NS-Belastung freigesprochen wurden.
Gut, Hans Meyer war also nur als Mitläufer eingeschätzt worden. Wie viel da dran ist, wissen wir nicht. Es ist ja bekannt, dass auch viele Nationalsozialist*innen sehr gut davon kamen, mit teilweise schlimm(st)en Taten, die sie im Krieg begangen hatten. Nun können wir Hans aber nichts unterstellen, was wir nicht wissen.
Auch eine weitere neue Spur haben wir. Ursel schreibt ja an Cilly die Frage “Hat die Inge noch immer Postdienst?” – Nun können wir der Karte entnehmen, dass eine der Töchter Cillys “Inge” heisst. Es handelt sich also um sie, die Postdienst leisten muss.
Da wir nun auch das Geburtsdatum haben und dadurch auch erfahren haben, dass die Inge nach der gefragt wird die ältere Tochter von Cilly ist, wissen wir zudem noch 2 neue Sachen:
1. Inge war zu dem Zeitpunkt als die diesen Dienst hatte 14 Jahre alt (Eine am 19. Juli 1929 geborene Person war am 27. Januar 1944, dem Briefabsendungstag – 14 Jahre alt. Ihr 15. Geburtstag war erst im Juli 1944).
Und wir wissen – 2. – dass sie zumindest noch zur Zeit des letzten Briefkontaktes einen solchen Dienst leisten musste. Konkret habe ich nicht gefunden, was das heisst – Postdienst. Aber vermutlich musste sie Post sortieren und / oder ausliefern. Und damit war sie nicht alleine.
Im Zweiten Weltkrieg werden die Kinder und Jugendlichen massiv zum Arbeitseinsatz oder Militärdienst herangezogen. Während für die 17- bis 24-jährigen Burschen (die nicht bereits Soldaten sind) und Mädchen der Reichsarbeitsdienst (RAD) zuständig ist, organisieren HJ, BDM und Schule den Einsatz für die Jüngeren.
Krist, 2018, S. 1
Die “Jüngeren” – wie sie hier bezeichnet wurden, also die unter 17, mussten unterschiedlichste Aufgaben übernehmen, besonders zum Ende des Krieges. Sie waren bei der Ernte auf dem Land tätig, leisteten Sammeldienste.
Die Kinder und Jugendlichen sammeln Rohstoffe zur Wiederverwertung, die im Krieg Mangelware sind, wie Alteisen, Altpapier oder Alttextilien.
BDM-Mädchen (BDM = “Bund Deutscher Mädel”) schwärmen gruppenweise aus, um Heilkräuter zu pflücken, zum Beispiel Schafgarbe, Huflattich und Brennnessel, denn der Import von Tee ist im Krieg zum Erliegen gekommen.
Für die fleißigsten Sammler und Sammlerinnen Oberdonaus gibt es Preise.
Unablässig sind die HJ-Angehörigen (HJ = “Hitlerjugend”) auch mit Spendenbüchsen unterwegs und sammeln Geld zu verschiedenen Anlässen, vor allem für das Winterhilfswerk der NSV.
Krist, 2018, S. 1
Und das war nicht alles, die Kinder und Jugendlichen verteilten Propagandamaterial der NSDAP und unterstützten Wehrmacht, Bahn und Post beim Beladen sowie bei der Weitergabe von Nachrichten, (vgl. Krist, 2018, S. 1) wie es Inge tat (mehr oder weniger freiwillig – das wissen wir ja nicht).
In den Gemeinden halfen die Teenager*innen außerdem beim Luftschutz und bei der Feuerwehr. Für den Bund Deutscher Mädel (BDM) wurde während des Krieges vor allem der sogenannte „Kriegsbetreuungsdienst“ zu einem zentralen Aufgabenbereich. BDM-Mitglieder besuchten verwundete Soldaten in Lazaretten, halfen bei der Versorgung der Wehrmacht und verschickten Feldpostpakete an Frontsoldaten. (vgl. ebd.)
Doch irgendwann war auch für die Jugendlichen der Krieg vorbei. Hier lest ihr ein Zitat eines Jugendlichen in München, er wohnte eine Stunde quer durch München von der Familie Meyer entfernt:
Mein Vater hörte jeden Tag BBC London, unterm Kopfkissen, damit die Nachbarn nichts mitbekamen. Am 30. April vormittags gab der Sender bereits durch: „München ist in amerikanischer Hand.“
– Zeitzeuge Robert Seidenader – zur SZ
Dieses Radiosender zu hören war streng verboten. Sie wurden als “Feindsender” bezeichnet. Der Antifaschist Wolfgang Heinze wurde damals in Leipzig verhaftet, da sein Nachbar ihn angeblich bei dem Hören eines solchen Senders erwischt hat. Nicht ungefährlich also und damit erklärbar, warum der Vater von Robert Seidenader das Radio nur unter dem Kopfkissen anmachte.
Es sollte ab dem Zeitpunkt des Briefes noch über ein Jahr dauern (bis April 1945) bis für alle in München und damit auch die Familie von Cilly der Krieg zuende sein sollte.
Schauen wir uns noch eine letzte Spur aus der Meldekarte an:
Erika Meyer, die jüngere Schwester, war zur Zeit als der Brief gesendet wurde erst 10 Jahre, 9 Monate alt. Sie war vermutlich noch einigermaßen befreit von solchen Aufgaben. Ursel schrieb in ihrem Brief “Wie geht es denn eigentlich meinem Zuckerl und dem Ingelein?”
“Mein Zuckerl” – damit meinte sie vermutlich Erika, zu der sie eine besondere Beziehung gehabt zu haben schien. Heute wäre sie 91 Jahre alt, wenn sie denn noch lebt. Leider habe ich keine weiteren Infos gefunden, bei einer schnellen Internetsuche. Man müsste den existierenden Spuren weiter folgen über Archive/ Einwohnermeldeämter etc., aber ich werde es hierbei belassen.
Zum Abschied nur noch dieses Bild (Google Maps):

Dabei handelt es sich um die “Bergstraße 43, Gauting” – wo die Familie August 1956 gewohnt hat. Die letzte Adresse, die erfasst ist auf der Karte. Von wann das Haus auf dem Bild genau ist, kann ich nicht sagen. Aber dort auf dem Gründstück haben die 4 gewohnt, vielleicht sogar in diesem kleinen Haus – weg aus der großen Stadt in die Kleinstadt westlich von München (ca. 35min mit dem Auto entfernt) – vielleicht war es ein Neustart, vielleicht suchten sie Ruhe. Wer weiss….
Schade, dass nicht mehr Briefe existieren, also ich keine weiteren besitze, so dass wir einen Verlauf hätten sehen können oder noch mehr Privates erfahren hätten. Aber so ist es manchmal. Manchmal haben wir halt nur einen.
Aber doch ist es spannend, würde ich meinen, was aus einem Brief alles an Infos gewonnen werden kann. Und vielleicht finden die Nachfahren ja mal diese Seite und freuen sich.
Viele Grüße
Eure Bewahrerin
Quellen:
Krist, M. (2018): Welche Aufgaben übernehmen die Jugendlichen im Krieg? Arbeitsblätter für erinnern.at
Zeitzeuge Robert Seidenader – IN: Münchens letzte Zeitzeugen. Unter: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/muenchen/zeitzeugen-zweiter-weltkrieg-muenchen-gespraeche-fliegeralarm-kriegsende-e965533/?reduced=true
