Zunächst möchte ich meiner Mutti – Evi – danken, dass sie mir geholfen hat bei dem Entziffern einiger schwieriger(er) Worte. Vielen Dank.
Weil sie stets an meiner Seite steht, sei es bei den Briefen oder generell im Leben, ich sie immer um Rat fragen kann, soll dieser Brief-Blogpost ihr gewidmet sein. ♥
DATEN ZUM BRIEF:
- Brief vom 30.05.1920
- gesendet wurde er aus Wittenberge (Absendeadresse unbekannt) nach „Hamburg 25“ (Mir ist nicht bekannt, was die 25 bedeutet, falls Jemand mehr weiß, gerne schreiben oder kommentieren! Postleitzahlen gab es erst ab 1941 – eventuell ist es eine Zahl zum leichteren Zuordnen für die Post.)
- auch der Poststempel des Umschlages besagt „Wittenberge“ und das Stempel-Datum 30.05.20, so dass der Brief wohl am Tag des Schreibens abgesendet wurde
- der Brief ging in die “Alfredstraße 52” in Hamburg
- „Amalie Schüler“ schrieb ihn (als Verfasserin) an das „Fräulein Oberlehrerin Luise Heyden“ (Empfängerin)
- Bei der Briefmarke handelt es sich um eine: Freimarke Deutsches Reich, Motiv: Germania mit Kaiserkrone (nach einem Bild der Schauspielerin Anna Führing), 40 Pfennig, Druckfarbe: dunkelrötlichkarmin/braunschwarz
- geschrieben wurde der Brief am 30.05.1920 und damit wenige Tage vor der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920, die auch im Brief zum Thema wurde
- dies war die zweite Wahl während der Weimarer Republik und die erste zu einem regulären Deutschen Reichstag
(mehr Infos zu den historischen Umständen des Briefes findet ihr unten im Anschluss an den abgetippten Brief, in den hellgrau abgesetzten Infokästchen)
- dies war die zweite Wahl während der Weimarer Republik und die erste zu einem regulären Deutschen Reichstag
- es handelt sich (subjektiv meine Meinung) um einen sehr schönen Schreibstil; dazu sehr vertraut in den Ausführungen; eine gewählte, höfliche Sprache – bis auf den kleinen Ausbruch über den Direktor, der auch Anlass für den Titel des heutigen Blog-Posts gab – aber auch diese Direktheit über den abwesenden Direktor spricht von der engen und sogleich ehrlichen Beziehung von Verfasserin und Empfängerin
- verfasst wurde er in deutscher Kurrentschrift
- Der Inhalt dreht sich um: einen kürzlichen Besuch in Hamburg und die damit verbundene Dankbarkeit, mit der Reise, einer Freundin von Amalie und politischen Umständen
aber lest selber…..
Wittenberge, 30.5.[19]20
Mein liebes Fräulein Heyden,
es wird wohl Zeit, daß ich
einen Ton von mir gebe, aber bis jetzt habe
ich keine Zeit gehabt. Das werden Sie wohl be-
greifen. Nun ist Sonntag Nachmittag, ich habe
mich mit lesen ein bisschen erquickt und kann
nun frisch an die Arbeit (!) gehen. Meine Reise
war leidlich; erst musste ich stehen, dann kam der
Schaffner und ich tat sehr kläglich. So verschaffte
[er] mir einen Sitzplatz inmitten lauter netter Men-
schen. Meinen Korb (haben Sie mein Schloß gefunden?
dann schicken Sie ihn mir bitte als Muster!) hob ein
Mann hinauf und herunter und reichte ihn mir sogar
zum Fenster hinaus. Das weiße Brot erregte Ent-
zücken bei einer Pause, da bot ich ihr ein halbes
Stück an; sie revanchierte sich durch Schokolade.
Zu Haus machte ich gleich mein Wohnzimmer nebst
Korridor (Verzeihung! Flur) rein, holte herrliche[n]
Spargel und dergleichen, machte alles zum Essen fer-
tig, ruhte mich aus und holte abends 9 Uhr mir meine
Anneliese zurück. Sie hatte diesmal wenigstens
Beginn einer neuen Seite des Briefs
einen Sitzplatz gehabt, ist aber auch noch müde von
der anstrengenden Reise. Sie ist begeistert von
ihrer Aufnahme im Krankenhaus, innerlich und
äußerlich, sieht aber blaß aus. Nun kommt die
Wahlsache, die wird sie auch nicht wohler machen.
Man rechnet in unserem Wahlkreise auf 4
Sitze; wenn sie auf der Wahlliste an 4. Stelle ge-
standen hätte, wäre sie also vielleicht Mitglied
des Reichstags geworden. Mir ist es lieber nicht.
Zwei Tage haben wir schon Schule gehabt, ohne
Direktor; der ist Vorsitzender der Demokr. Partei
und hat natürlich bis zum 6. Juni keine Zeit für
die Schule. Mich freut´s , daß ich seine widerliche
Visage nicht zu sehen brauche.
Nun will ich mich aber doch endlich der Hauptsache
zuwenden und Ihnen und Ihrer Familie viel-
tausendmal danken für all Ihre Liebe; es
waren schöne Tage für mich, ohne Haß und Bos-
heit und Gleichgültigkeit; ordentlich aufgelebt
bin ich, weil ich wieder unter Menschen war, die
Beginn einer neuen Seite des Briefs
mich umsorgten und mein Leben froh zu gestalten
suchten. Es ist mir ordentlich schwer geworden,
wieder fortzufahren, und es ist mir ein Glück,
daß ich meine Freundin hier habe. Aber Ham-
burg bleibt Hamburg ! —- Sehr leid hat es mir
getan, daß ich so wenig von den Büchern und Samm-
lungen Ihres lieben Vaters gesehen habe; es war
zu schön ! Ich hoffe auf spätere Zeiten.
Nun leben Sie wohl, schonen Sie sich, damit Sie ge-
sund bleiben, und nehmen Sie herzliche Grüße für
sich und Ihre Lieben von
Ihrer dankbaren
Amalie Schüler
Historischer Kontext des Briefes:
Da die “demokr. Partei” im Brief erwähnt wird, wie auch die Reichstagswahl vom 6. Juni 1920, will ich für alle Geschichtsinteressierten unter euch gerne noch etwas historischen Kontext geben:
Schauen wir also zunächst auf die Umstände in denen der Brief entstanden ist. Nach dem ersten Weltkrieg entstand im November 1918 als liberale Sammelbewegung die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Es ist naheliegend, dass in der Zeile des Briefes, die von der “demokr. Partei” handelt, nicht die “Sozialdemokratische Partei – SPD”, sondern die besagte neu gegründete DDP gemeint ist. Der Gründungsaufruf der neuen Partei war von sechzig Persönlichkeiten unterzeichnet worden. Unter den Unterzeichnenden finden sich namhafte Intellektuelle wie der Physiker Albert Einstein, der Soziologe Alfred Weber und der Journalist Hellmut von Gerlach. (vgl. Leuschner, o.J.)
Rechts von der DDP agitiert die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die auch Antisemit:innen in ihren Reihen hat. Die DNVP ist offen republikfeindlich und antidemokratisch eingestellt. Noch weiter rechts steht nur die NSDAP, die dann Anfang der dreißiger Jahre mit Hilfe der Deutschnationalen zur Macht gelangen wird, wie ihr alle ja wisst. (vgl. ebd.)
Die DDP präsentiert sich dagegen als “lupenrein” liberale Partei, die “Geist, Geld und soziale Belange in ansprechender Form zu verbinden weiß”. Sie ist vorrangig die Partei des Bildungsbürger:innentums und Wirtschaftskreisen, also weniger radikal, und auch ideologisch fern der Arbeiter:innenklasse. (vgl. ebd.) Das zeigt auch ihr Werbeplakat von 1920 (siehe unten, das linke der beiden Poster):
Am 6. Juni 1920 wurde […] der erste Reichstag gewählt.
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1933, S. 539
Die Wahl brachte eine klare Niederlage für die Parteien der Weimarer Koalition:
Die SPD verlor 16,2%, die DDP 10,2% der Stimmen.
Nun gab es also bei der Wahl, die zur Zeit des Briefes nur wenige Tage bevor stand, eine große Niederlage für die Demokratische Partei. Der erwähnte Herr Direktor war sicher tief betroffen. Es wäre nur zu spannend gewesen, den Nachfolgebrief zu lesen mit der Stimmung, die dann nach der Wahl herrschte in Amalies Umfeld.
Leider war es mir nicht möglich, die in dem Brief erwähnten Mann ausfindig zu machen, den die Autorin Amalie benennt. So spricht sie in einem Absatz von dem Direktor einer Schule, der als Vorsitzender der demokratisch eingestellten Partei wegen der Reichstagswahl einige Tage bis zum 6. der Arbeit fern bleibt, obwohl die Schule bereits wieder begonnen hat. Über dieses Fern-Bleiben beschwert sie sich zwar, ergänzt dann aber, sagen wir mal diplomatisch: dass es sie auch nicht sonderlich traurig macht (“Mich freut´s , daß ich seine widerliche Visage nicht zu sehen brauche.”) Ich konnte leider keinen Schuldirektor finden, der gleichzeitig Vorsitzender der DDP war. Womöglich handelt es sich um eine Ortsgruppe oder ähnliches, der er vorstand, aber bisher ist nichts zu finden. Vorsitzende der DDP jedenfalls gab es verschiedene, auch Vertretungen, aber keiner war Schuldirektor.
Später im Brief schreibt sie von “ihrer” Anneliese, die ebenfalls mit der Reichstagswahl befasst ist. So wäre diese Anneliese wohl in den Reichstag gekommen bei einer anderen Anordnung auf der Wahlliste. Eine Wahlliste von 1920 mit diesen Vornamen drauf konnte ich ebenfalls nicht ausfindig machen.
Spannend ist ja aber, gerade für alle Frauenrechtler:innen unter euch, dass erst seit der Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 Frauen an Wahlen teilnehmen konnten. (vgl. Frauenwahllokal, o.J.) Es wurde ihnen nicht geschenkt, sie hatten es sich erkämpft.
Ende November 1918 beschloss der Rat der Volksbeauftragten, eine verfassungsgebende Nationalversammlung wählen zu lassen. Am 20. Dezember bestätigte eine Mehrheit auf der Reichskonferenz der Arbeiter:innen- und Soldatenräte diesen Beschluss. Alle Bürger:innen über 20 Jahre erhielten das aktive und passive Wahlrecht, erstmals auch Frauen. (lpb, o.J.) Vorher erst ab 25 gewählt werden und eben nur als Mann.
Rund 82 Prozent der Frauen gaben ihre Stimme bei der Wahl der Nationalversammlung ab. Auf den Wahllisten waren Frauen hingegen unterrepräsentiert, aber es gab sie. Die Frauen aus bürgerlichen Milieus profitierten von den neuen Bildungsmöglichkeiten am Ende des 19. Jahrhunderts, wie Abitur und Studium und kämpften sich durch die nun erworbenen Abschlüsse und die damit verbundene, gestiegene Anerkennung auch vermehrt in die Politik. (vgl. Frauenwahllokal, o.J.)
Viele der Partei-politisch aktiven Frauen kamen aus dem Schuldienst, wie auch die Empfängerin des Briefes Luise und eventuell, wie ihr noch lesen werdet, auch die Absenderin/Verfasserin Amalie. (vgl. ebd.) Die erwähnte Freundin von Amalie, namens Anneliese profitierte also von dieser Zeit, von den Umbrüchen, die die bürgerliche Frauenbewegung angestoßen hatte und so hat sie sich zur Wahl gestellt.
Wegen ihrer politischen Arbeit waren mehr als die Hälfte der Frauen ledig, denn noch immer galt das „Beamtinnenzölibat“: Nach der Heirat mussten Frauen kündigen und verloren damit auch ihre Pensionsansprüche. (vgl. ebd.) Bei der Wahl 1920 schafften es 37 Frauen in den Reichstag, das sind 8,0 % der gesamten Abgeordneten. (vgl. Fülles, 1969, S. 122)
So viel bis hierher zu diesen beiden im Brief erwähnten politisch aktiven Personen – der Direktor und die Freundin der Verfasserin, namens Anneliese und den historischen Umständen dieser Wahl.
Leider ergab auch eine Suche über die Empfängerin des Briefes, Luise Heyden, wenig Aussagekräftiges. Verschiedene Spuren, aber nichts, was man als Theorie präsentieren könnte. Wir wissen also mit Sicherheit nur vom Briefumschlag, dass sie Oberlehrerin war und in Hamburg lebte, dass ihr Vater über Bücher und Sammlungen verfügte, die, wie man Amalies Begeisterung entnehmen kann, sehr eindrucksvoll waren. Auch diese Familie kommt scheinbar aus einem bürgerlich-bessergestelltem Milieu.
Über Amalie Schüler – die Autorin des Briefes ist leider auch nicht viel rauszubekommen. Der Verein für Geschichte der Prignitz e. V. arbeitet sehr aktiv und veröffentlichte Listen mit ehemaligen Angestellten des Schuldienstes. Warum denn überhaupt die Prignitz von Interesse ist, wenn der Brief doch aus Wittenberge kam? Wittenberge ist Teil des Landkreises Prignitz, dieser ist ein Landkreis im äußersten Nordwesten des Landes Brandenburg.
Auf diesen Listen gibt zum Beispiel den Eintrag zu einer “Oberlehrerin, StRin: Schüler, Amalie“ (in: http://www.geschichtsverein-prignitz.de/5.pdf – S. 127) mit Verweisen auf verschiedene Quellen, die dem Verein vorliegen (einem Magistrats-Protokoll von 1924 – MP, einem Jahresbericht von 1911- Jb). Nun ist mir nicht bekannt, wie viele Personen diesen exakten Namen getragen haben in Wittenberge, aber es scheint mir ein glaubwürdiger Hinweis zu sein auf unsere herzliche, aber auch freche Amalie. Die vermutliche Schule, an der sie angestellt war, war ein Realgymnasium / die Oberrealschule oder eine Mittelschule für Mädchen (die sich im selben Gebäude befand) in Wittenberge.
Eine andere Quelle des Vereines (https://www.landkreis-prignitz.de/globalcontent/documents/landkreis-verwaltung/kreisarchiv/findbuch_histor_bestand_wpr.pdf – S. 13) spricht ebenfalls von einer Amalie Schüler:
“KA 00211 – Personalakte: Schüler Amalie, Tätigkeit: Oberlehrerin/Studienrätin, 1910 – 1940″.
Was meint ihr: Könnte sie es sein? Ist es naheliegend, dass sie – eine potenzielle Oberlehrerin – eine andere Oberlehrerin in Hamburg besucht (ca. 1h Zugfahrt), ihr anschließend schreibt, der Brief so zustande kam? Ich könnte es mir zumindest vorstellen. Eventuell haben sie sich in der Ausbildung kennengelernt und haben Kontakt gehalten. Vielleicht kommt ja Amalie ursprünglich aus Hamburg und ist der Arbeit wegen nach Wittenberge.
Ich werde den besagten Prignitzer Verein mal kontaktieren, vielleicht können sie uns noch Infos geben.
Das soll es für heute aber von mir gewesen sein.
Zum Abschluss sehr ihr hier noch einen Reisekorb aus den 1920er Jahren (er hat auch ein Schloss angebracht, wie es im Brief erwähnt wurde).
Auch hab ich für euch ein Foto dass zeigt, wie Gepäck zu dieser Zeit aus dem Fenster gereicht wurde, ganz so, wie im Brief beschrieben. Mit diesem Foto bekommt ihr auch einen Eindruck von dem Kleidungsstil und der Stimmung an Bahnhöfen dieser Zeit in Deutschland.
Man kann sich mit etwas Phantasie vorstellen, wie Amalie ihren Korbkoffer von dem netten Mann hinausgereicht bekommt bei ihrer Ankunft in Wittenberge….
♡ Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit. Ich hoffe der Brief und der Blogpost dazu haben Euch gefallen. ♡
Wenn ihr noch was rausfindet über die Protagonist:innen, etwas Historisches nachtragen wollt oder Eure Eindrücke teilen, dann kommentiert gern. 🙂
Quellen:
- Asmuss, B. (2011): Die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Abgerufen am: 03.02.2022, unter: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/ddp.html
- Frauenwahllokal (o.J.): Die ersten Politikerinnen der Weimarer Nationalversammlung. Abgerufen am: 03.02.2022, unter: https://frauenwahllokal.com/ausstellung-das-gehoert-noch-dazu/
- Fülles, M. (1969): Die Frau in der Politiik – Frauen in Partei und Parlament. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. – Fülles bezieht sich in ihren Zahlen auf die Veröffentlichungen Die Frau in den deutschen Parlamenten (Rosemarie Nemitz, 1958) und Die politische Rolle der Frau in Deutschland (Gabriele Bremme, 1956).
- Leuschner, U. (o.J.): Von 19 auf 1 Prozent – Die vielversprechenden Anfänge und das unrühmliche Ende der DDP. Abgerufen am: 03.02.2022, unter: https://www.udo-leuschner.de/liberalismus/ddp.htm
- lpb – Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (o.J.): Geschichte des Wahlrechts, Abgerufen am: 04.02.2022, unter: https://www.bundestagswahl-bw.de/geschichte-des-wahlrechts#c71788
- Statistisches Reichsamt (Hrsg) (1933): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Zweiundfünfzigster Jahrgang, Berlin: STATISTISCHES REICHSAMT Verlag.
Nachtrag: Das Wittenberger Archiv hat sich gemdelt, dass sie mal nachschauen werden, ob sie was zur Person finden. 🙂
Sehr interessante anschließende geschichtliche Erläuterungen zu den Orten und Geschehnisse.
Danke für die einleitenden Worte und meine Erwähnung.
Aber sicher doch !!! Danke für das liebe Kommentar <3
[…] Link zum Brief: “Mich freut´s, daß ich seine widerliche Visage nicht zu sehen brauche.” […]
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